„The Leans“ – Wenn die Wahrnehmung täuscht: Eine Betrachtung über Vertrauen und Kontrolle in der Führung

Mike Hoofdmann • 2. März 2025

In der Luftfahrt gibt es zahlreiche Herausforderungen, die ein Pilot meistern muss. Eine der gefährlichsten ist die räumliche Desorientierung, also die Unfähigkeit, die eigene Position im Raum korrekt wahrzunehmen. Eine besonders tückische Form dieser Desorientierung ist das Phänomen „The Leans“ – eine Sinnestäuschung, die dazu führt, dass sich das Flugzeug in einer vermeintlichen Schräglage befindet, obwohl es in Wirklichkeit gerade fliegt. Dieses Phänomen und dessen Effekte auf mein inneres Vertrauen als auch das Vertrauen in andere, die mit mir im Cockpit saßen, habe ich oft selbst erleben „dürfen“. Als Fluglehrer war es eine Aufgabe, Flugschüler gezielt in die räumliche Desorientierung zu fliegen, damit sie die Effekte auf ihre Wahrnehmung kennenlernen konnten. Alles hatte zum Ziel, den Umgang mit der Unsicherheit zu trainieren. Bei „The Leans“ handelt es sich um die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Realität und der inneren Wahrnehmung der Realität.


Solche Illusionen sind nicht nur in der Luftfahrt, im Cockpit gefährlich, sondern auch in anderen komplexen Systemen, in denen Menschen Entscheidungen unter Unsicherheit treffen müssen – etwa in der Unternehmensführung. Teams und Führungskräfte können ebenfalls einem verzerrten Realitätsempfinden unterliegen und auf der Basis dieser falscher Annahmen handeln. Besonders wenn es um Kontrolle und Vertrauen geht, können Führungskräfte unter einer Art „The Leans“ leiden: einem tiefsitzenden Misstrauen genährt durch die innere Wahrnehmung und dem Glauben, das die eigene Realität absolut ist. Dieses kann zu übermäßiger Kontrolle verleitet, selbst wenn diese nicht gerechtfertigt oder gar schädlich ist. Die eigene Wahrnehmung ist für Menschen immer die Wirklichkeit. Sie ist absolut. Von diesem Prinzip abzuweichen, benötigt eine tiefere Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein, der Grenzen eigener Wahrnehmung und der Erkenntnis, dass die eigene Realität nur eines ist, individuell.

Die Parallelen zwischen der Luftfahrt und der Organisationsführung sind überraschend deutlich – und liefern wertvolle Einsichten darüber, wie Vertrauen eine Schlüsselrolle für effektive Führung spielt.


Eine Illusion mit fatalen Folgen

„The Leans“ tritt auf, wenn ein Flugzeug unbemerkt in eine leichte Schräglage gerät, die über einen längeren Zeitraum beibehalten wird. Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr passt sich an diese neue Lage an, sodass sie vom Piloten als „normal“ wahrgenommen wird. Wird das Flugzeug anschließend wieder in eine gerade Fluglage gebracht, entsteht paradoxerweise das Gefühl, dass es nun in die entgegengesetzte Richtung kippt.

Der Pilot steht nun vor einer kritischen Entscheidung:

  • Vertraut er seiner eigenen Wahrnehmung und korrigiert die (vermeintliche) Schräglage?
  • Oder verlässt er sich auf seine Instrumente, die ihm objektiv anzeigen, dass das Flugzeug tatsächlich geradeaus fliegt?

Diese Täuschung kann erhebliche Konsequenzen haben. Verlässt sich der Pilot auf sein Gefühl seine eigene Wahrnehmung, steuert er möglicherweise unbewusst eine gefährliche Fluglage an. In schweren Fällen kann dies zu einem unkontrollierten Flugzustand führen, insbesondere bei schlechten Sichtverhältnissen oder Nachtflügen, wenn keine externen visuellen Referenzen vorhanden sind, ist das Phänomen „The Leans“ sehr verbreitet, da keine Rückkopplungschleife zwischen dem Gleichgewichtssinn und den visuellen Eindrücken besteht.

Daher lautet eine der fundamentalsten Regeln in der Luftfahrt: „Vertraue den Instrumenten, nicht deinen Sinnen.“

Dieses Prinzip ist nicht nur für Piloten entscheidend, sondern auch kann für Führungskräfte in Unternehmen nützlich sein.


Vertrauen und Kontrolle in der Unternehmensführung – Eine vergleichbare Herausforderung

In der Unternehmensführung kann eine ähnlich trügerische Wahrnehmung entstehen. Führungskräfte, die sich in einem unsicheren Umfeld bewegen – sei es aufgrund von Marktvolatilität, internen Herausforderungen, mangelnden Selbstvertrauen oder mangelndem Zutrauen und Vertrauen in ihre Mitarbeitenden – können sich in einem Zustand chronischer Unsicherheit wiederfinden.

Das Ergebnis ist oft eine übermäßige Kontrolle:

  • Mikromanagement, weil die Führungskraft das Gefühl hat, dass ohne ihre ständige Intervention Fehler passieren.
  • Detaillierte Berichtspflichten, weil sie den Status jedes Projekts lückenlos überwachen möchte.
  • Übermäßige Entscheidungszentralisierung, weil sie glaubt, dass Delegation zu Fehlern führen könnte.

Genau wie beim Phänomen „The Leans“ handelt es sich dabei um eine Fehlwahrnehmung der Realität:

  • Die Führungskraft glaubt, dass ohne ihre Kontrolle das Unternehmen in eine „Schräglage“ gerät, obwohl es tatsächlich stabil läuft.
  • Sie reagiert mit noch mehr Kontrolle, um die (nicht existierende) Schräglage zu korrigieren – und erzeugt damit erst die eigentlichen Probleme, die sie verhindern wollte.

Führungskräfte, die in diesen Kontrollzwang verfallen, handeln oft nicht rational, sondern emotional – genau wie ein Pilot, der „The Leans“ erlebt.


Die negativen Auswirkungen von übermäßiger Kontrolle

Der Kontrollzwang in Organisationen hat weitreichende negative Konsequenzen, ähnlich wie die Fehlsteuerung eines Flugzeugs unter räumlicher Desorientierung.


a) Vertrauensverlust und Demotivation

Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, dass ihre Arbeit ständig hinterfragt oder kontrolliert wird, sinkt ihr Engagement. Studien zeigen, dass übermäßige Kontrolle nicht nur demotiviert, sondern auch die Eigeninitiative und Kreativität hemmt. Menschen neigen dazu, sich in einem solchen Umfeld nur noch an Regeln zu halten, anstatt eigene Ideen einzubringen oder Verantwortung zu übernehmen.


b) Verlangsamung von Prozessen und Entscheidungsfindung

Eine Kultur des Misstrauens führt oft zu übermäßiger Bürokratie: Jede Entscheidung muss mehrfach überprüft, dokumentiert und genehmigt werden. Dies verlangsamt nicht nur operative Prozesse, sondern verhindert auch eine agile Anpassung an Marktveränderungen.


c) Innovationshemmung

In einem Umfeld, in dem Fehler nicht toleriert werden und Kontrolle allgegenwärtig ist, fehlt der Mut, neue Wege zu gehen. Unternehmen, die auf Innovation angewiesen sind, riskieren so, dass Mitarbeitende sich nicht trauen, Risiken einzugehen – aus Angst vor negativen Konsequenzen.


Und was können wir Führungskräfte von Piloten lernen?

Die Parallele zwischen „The Leans“ in der Luftfahrt und Kontrollzwang in Unternehmen zeigt deutlich: Fehlwahrnehmungen können dazu führen, dass Menschen Entscheidungen treffen, die ihre Situation verschlechtern, anstatt sie zu verbessern.


Lösungsansätze für einen besseren Umgang mit „The Leans“

  1. Den eigenen Wahrnehmungen nicht blind vertrauen
    Führungskräfte sollten sich bewusst machen, dass ihr subjektives Gefühl nicht immer mit der Realität übereinstimmt. Statt impulsiv auf Unsicherheiten zu reagieren, sollten sie sich auf
    objektive Daten, Feedback und das bewährte Prinzip von Fragen und Zuhören um zu vertsehen stützen.
  2. Gezielte Kontrolle statt Mikromanagement
    Kontrolle ist nicht grundsätzlich schlecht – aber sie sollte bewusst eingesetzt werden. Statt alles und jeden zu überwachen, sollten Führungskräfte klare Strukturen und Verantwortlichkeiten definieren, sodass Kontrolle nur dort nötig ist, wo sie tatsächlich Mehrwert schafft.
  3. Vertrauen als strategisches Instrument nutzen
    Vertrauen ist kein naiver „weicher Faktor“, sondern ein essenzielles Element als wirksamer Mechanismus in Organisationen und Management. Unternehmen, die die Emergenz von Vertrauen strukturell etablieren, profitieren von höherer Performance, gesteigerten Motivation, schnelleren Entscheidungen und einer gesteigerten Innovationsfähigkeit der Organisation.
  4. Eigenverantwortung fördern
    Indem Abgabe von Verantwortung nicht durch triviale Appelle eingefordert, sondern strukturell in der Organisation verankert ist, stärken sie die Eigenständigkeit der Teams und Mitarbeitenden. Dies reduziert nicht nur den Kontrollaufwand, sondern sorgt auch für eine resilientere und anpassungsfähigere Organisation.


Fazit

Das Phänomen „The Leans“ zeigt, dass subjektive Wahrnehmung und objektive Realität nicht immer übereinstimmen – mit potenziell gravierenden Konsequenzen. In der Luftfahrt kann dies zu tödlichen Fehlentscheidungen führen, in der Unternehmensführung zu ineffizienten, demotivierenden und innovationshemmenden Strukturen.

Sowohl Piloten als auch Führungskräfte stehen daher vor der gleichen Herausforderung: Sie müssen lernen, wann sie Kontrolle loslassen und wann sie sich auf objektive Indikatoren verlassen sollten.

Wer alles kontrollieren will, verliert am Ende oft genau das – die Kontrolle. Wer hingegen Vertrauen gezielt einsetzt, schafft nicht nur Stabilität, sondern auch Raum für Wachstum und Innovation.