Misstrauen in der Organisationsführung: Wenn Angst vor Kontrollverlust zur Bremse wird
Misstrauen in der Organisationsführung: Wenn Angst vor Kontrollverlust zur Bremse wird
In der modernen Organisationsführung wird Vertrauen oft als Schlüsselfaktor für erfolgreiche Zusammenarbeit hervorgehoben. Doch was passiert, wenn das Gegenteil dominiert: ausgeprägtes Misstrauen aufgrund von Angst vor Kontrollverlust? In einem kürzlichen Mandat konnte ich aus nächster Nähe beobachten, was diese Angst mit einer Organisation machen kann und wie ein ausgeprägter Kontrollzwang dazu führt, dass wirkliche Führung und Entscheidungsfähigkeit erstickt.
Der Ursprung des Kontrollzwangs
Kontrollzwang in Organisationen entsteht häufig aus der Unsicherheit von Führungskräften, die sich in ihrer Rolle überfordert oder nicht ausreichend vorbereitet fühlen, um mit dem Druck der relevanten Umwelt (z. B. dem Markt) umzugehen. Diese Unsicherheit kann verschiedene Ursachen haben:
- Fehlendes Zutrauen in die Kompetenzen der Mitarbeitenden
Wenn Führungskräfte Zweifel an den Fähigkeiten ihrer Teams haben, neigen sie dazu, Aufgaben nicht vollständig zu delegieren oder ständige Überprüfungen vorzunehmen. Dies resultiert oft aus mangelnder Erfahrung im Umgang mit Delegation oder aus negativen Erfahrungen in der Vergangenheit. - Persönliche Ängste und Unsicherheiten
Führungskräfte, die Schwierigkeiten haben, Kontrolle abzugeben, können tief verwurzelte Ängste vor Fehlern oder Versagen haben. Diese Angst führt dazu, dass sie jedes Detail überwachen, um potenzielle Fehlerquellen zu eliminieren. - Fehlende klare Strukturen und Prozesse
In Organisationen, in denen Strukturen und Prozesse nicht klar definiert sind, entsteht Unsicherheit sowohl bei den Führungskräften als auch bei den Mitarbeitenden. Diese Unsicherheit wird oft durch übermäßige Kontrolle kompensiert, um ein Gefühl der Stabilität zu erzeugen. - Kulturelle Faktoren
In vielen Unternehmen herrscht noch immer eine Kultur, die Kontrolle mit Führungsstärke gleichsetzt. Führungskräfte, die in solchen Umfeldern arbeiten, sehen sich unter Druck gesetzt, Kontrolle auszuüben, um als kompetent und durchsetzungsstark wahrgenommen zu werden.
Laut Reinhard K. Sprenger in „Vertrauen führt“ ist genau dieses Vertrauen der wichtigste Faktor für wirksame Führung: Übermäßige Kontrolle sei nicht nur ineffizient, sondern untergrabe auch das Engagement der Mitarbeitenden. Fredmund Malik unterstreicht in „Führen, Leisten, Leben“, dass echte Führung weniger über Kontrolle und mehr über die Schaffung von Bedingungen für Selbststeuerung und Verantwortung funktioniert. Lars Vollmer kritisiert in „Zurück an die Arbeit“ die zunehmende Bürokratisierung und den „Kontrollwahn“ in Unternehmen. Er plädiert für eine Rückkehr zu wertschöpfender Arbeit und macht deutlich, wie Angst und Unsicherheit das flexible, anpassungsfähige Handeln blockieren. Günther Ortmann hebt in „Kunst des Möglichen“ hervor, dass Organisationen als komplexe soziale Systeme langfristig erfolgreicher geführt werden, wenn sie sich anpassungsfähig zeigen, statt auf starre Kontrolle zu setzen.
Die Folgen von Kontrollzwang in Organisationen
Ein stark ausgeprägter Kontrollzwang hat weitreichende Konsequenzen für Unternehmen, wenn er zum kulturellen Bestandteil der Organisation wird. Zunächst führt er zu Mikromanagement, bei dem Führungskräfte sich in Details verlieren und den Mitarbeitenden kaum Raum für eigene Entscheidungen lassen. Das Ergebnis sind:
- Demotivation: Mitarbeitende fühlen sich entmündigt und verlieren das Interesse an ihrer Arbeit.
- Innovationshemmung: In einer Überwachungskultur fehlt der Mut, neue Ideen vorzuschlagen oder Risiken einzugehen.
- Verlangsamte Prozesse: Übermäßige Kontrolle erschwert schnelle Entscheidungen und führt zu Bürokratie.
- Eingeschränkte Lernprozesse: Die Mitarbeitenden lernen, dass Kontrolle das Maß aller Dinge ist und passen ihr Verhalten entsprechend an.
Systemtheoretische Perspektiven: Vertrauen als Komplexitätsreduktion
Die Systemtheorie von Niklas Luhmann bietet einen weiteren Erklärungsansatz: Vertrauen dient als Mechanismus zur Reduktion von Komplexität in sozialen Systemen. Wenn Führungskräfte Zutrauen in ihre Mitarbeitenden und Prozesse haben, können sie Unsicherheiten akzeptieren und Verantwortung abgeben. Fehlt dieses Vertrauen, greifen sie auf Kontrolle zurück, um die Komplexität zu managen – oft jedoch mit gegenteiligem Effekt, da Misstrauen weitere Kontrollschleifen auslöst und dadurch die Komplexität sogar erhöht.
Fehlermanagement: Unterschied zwischen Fehler und Irrtum
Ein zentrales Thema im Umgang mit Kontrolle ist der Umgang mit Fehlern. Hier lohnt sich eine genaue Differenzierung zwischen Fehlern und Irrtümern:
- Ein Fehler entsteht oft durch Unachtsamkeit oder das Nicht-Einhalten klarer Vorgaben. Er kann meist relativ einfach identifiziert und durch definierte Prozesse behoben werden.
- Ein Irrtum hingegen hat mit falschen Annahmen oder unvollständigem Wissen zu tun, die erst im Nachhinein als solche erkannt werden. Irrtümer sind häufig Teil von Innovations- und Lernprozessen, da sie erst zeigen, dass eine Ausgangshypothese nicht stimmte.
Diese Unterscheidung ist relevant, weil eine Kultur, die alle Abweichungen als „Fehler“ brandmarkt, schnell zu lähmendem Kontrollverhalten führt. Werden Irrtümer hingegen als natürlicher Bestandteil von Lern- und Innovationsprozessen akzeptiert, kann sich eine offenere, vertrauensvollere Arbeitsatmosphäre entwickeln. Führungskräfte haben dann weniger das Gefühl, jedes Detail überwachen zu müssen, und Mitarbeitende verlieren die Angst davor, neue Wege zu gehen.
Theorie in die Praxis umsetzen: Konkrete Schritte für Führungskräfte
Um die in der Theorie beschriebenen Konzepte in der täglichen Praxis zu verankern, können folgende Ansätze helfen:
- Klare Delegationsregeln
Durch transparente Absprachen zu Verantwortung und Kompetenzbereichen verringert sich die Unsicherheit auf beiden Seiten – der Impuls zu übermäßiger Kontrolle nimmt ab. - Regelmäßige Gespräche
Statt Mikromanagement zu betreiben, können Führungskräfte in geordneten Runden mit ihren Teams Fragen stellen und zuhören. Hier lohnt sich ein weiteres Mal die Fähigkeit Zuhören um zu verstehen zu kultivieren. Das schafft Vertrauen und behält gleichzeitig den Überblick. - Unterscheidung zwischen Fehler und Irrtum
Fehler und Irrtümer sind unterschiedliche Dinge. Eine wichtige Unterscheidung wenn es darum geht, Kontrolle abzugeben und mit Unsicherheiten umzugehen. Es sind Lerngelegenheiten und ermutigten zu Eigeninitiative und Risikobereitschaft. - Transparenz über Ziele und Prozesse
Wenn Ziele und Abläufe klar formuliert sind, sinkt das Bedürfnis, jeden Schritt zu überwachen. Eigenverantwortliches Handeln wird gefördert. - Erkenntnis und Reflexion
Unsicherheiten bei Führungskräften können durch gezielte Begleitung abgebaut werden. Ein bewusster Umgang mit der eigenen Rolle und den eigenen Ängsten reduziert den Drang nach Kontrolle.
Die Balance zwischen Kontrolle und Vertrauen finden
Der Weg liegt in der Balance. Vertrauen bedeutet nicht, Kontrolle vollständig aufzugeben, sondern sie bewusst und gezielt einzusetzen. Vertrauen fördert die Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Mitarbeitenden, während ein gewisses Maß an Kontrolle sicherstellt, dass gemeinsame Ziele nicht aus den Augen verloren werden.
Eine ausgeprägte Angst vor Kontrollverlust führt jedoch schnell zu einem Kontrollzwang, der Organisationen in ihrer Entwicklung bremst und negative Auswirkungen auf die Wertschöpfung hat. Die Literatur von Sprenger, Vollmer, Malik und Ortmann zeigt deutlich, dass Vertrauen nicht nur ein „weicher Faktor“, sondern ein strategisches Instrument erfolgreicher Führung ist. Organisationen, die lernen, mit Unsicherheiten umzugehen, sind flexibler, innovativer und anpassungsfähiger – und damit langfristig erfolgreicher am Markt.
Was bedeutet das nun?
Die größte Herausforderung für Führungskräfte besteht darin, das eigene Verhalten zu reflektieren und die Mechanismen in der Organisation zu verstehen, die zum Kontrollzwang führen. Erst diese Erkenntnis ermöglicht es, gezielt Veränderungen anzustoßen. Statt übermäßiger Kontrolle braucht es den Mut, Verantwortung abzugeben und Vertrauen in die eigenen Mitarbeitenden und Prozesse aufzubauen. So wird aus Angst vor Kontrollverlust ein Motor für die Wertschöpfung und die Anpassungsfähigkeit der Organisation.