Schreiben, Fliegen, Führen - Warum viele Probleme "komplexiziert" sind.
Ich schreibe derzeit ein Buch. Ein Buch über Führung, Organisation – und den ganz normalen Wahnsinn dazwischen.
Was sich dabei zeigt: Schreiben ist mehr als Tippen. Es ist ein ständiger Wechsel zwischen Klarheit und Suchbewegung, zwischen Fokus und Irritation, zwischen Struktur und Leere.
Und genau das bringt mich zu einem Gedanken, den ich aus meiner Erfahrung als Pilot, Manager und Berater gut kenne – aber beim Schreiben noch einmal neu gespürt habe:
Die meisten Probleme, mit denen wir uns beschäftigen, sind nicht einfach nur kompliziert oder komplex. Sie sind „komplexiziert“.
Kompliziert? Komplex? Oder doch Komplexiziert?
Der Begriff ist ein natürlich Kunstwort – zusammengesetzt aus
Komplexität und
Kompliziertheit. Man könnte es auch „Zwei-Schicht-Problem“ nennen.
Was ich im Alltag vieler Organisationen erlebe, ist eine wilde Vermischung beider Begrifflichkeiten. Leider führt das oftmals zu einem unklaren Umgang mit Problemen. Als Berater achte ich penibel auf Begriffsklarheit.
Hier ein kleiner Exkurs in die Welt der Unterscheidungen:
- Komplex ist das, was wir nicht durchdenken können. Überraschend, dynamisch, mehrdeutig.
- Kompliziert ist das, was wir durchplanen können. Logisch, technisch, kalkulierbar.
Diese grundlegende Unterscheidung ist nicht nur beim schreiben eines Buches wichtig, sondern vor allem im Führungsalltag. Die meisten Herausforderungen im Berufsalltag – ob Strategie, Probleme des Marktes und Kunden,Transformation oder Teamentwicklung – enthalten beides gleichzeitig. Sie sind eben „komplexiziert“. Das ist, was ich "Duale Wertschöpfung" nenne.
Was das mit Schreiben zu tun hat
Wenn ich an einem Kapitel sitze, beginnt der Prozess fast immer komplex:
Ich weiß noch nicht, wie ich beginne. Ich suche nach dem Kern der Idee, ringe um Sprache, Struktur, Tiefe. Das braucht Zeit – und vor allem:
kreative Präsenz.
Erst wenn das Denkgerüst steht, wird es kompliziert:
Jetzt geht es ums Schreiben, Redigieren, Glätten. Ein klarer Plan, eine konkrete Aufgabe. Disziplin statt Intuition.
Würde ich diesen Unterschied nicht machen, käme ich auf die Idee, beim kreativen Hängen schneller zu tippen – oder mir eine neue Software zu installieren.
Unsinnig? Ja. Und doch passiert genau das täglich in Unternehmen.
Was das mit Fliegen zu tun hat
Als Pilot kenne ich Situationen, in denen wir hoch standardisiert gearbeitet haben – zum Beispiel beim Start, Landung oder Checklistenführung. Alles ist durchdacht, trainiert, abgesichert. Komplizierte Abläufe – mit klarem Erfolgskriterium.
Und dann gab es viele Situationen, in denen wir nichts planen konnten, nichts vorhersehbar war – etwa bei Einsatzlagen oder Entscheidungen in dynamischer Lage. Hier hilft keine Checkliste.
Hier hilft nur: gutes Urteilsvermögen, klare Kommunikation, und gute Ideen.
Wenn ich komplexe Situationen mit komplizierten Lösungen bekämpfen will, kann das gefährlich werden.
Im Cockpit wie in der Führung.
Warum das für Führung entscheidend ist
In Organisationen beobachte ich häufig:
Wenn der Druck steigt, greifen wir auf das zurück, was wir kennen – auf Wissen (das
Komplizierte).
Mehr Prozesse. Mehr Tools. Mehr Meetings. Mehr KPIs.
Doch wenn das Problem komplex ist, also offen, mehrdeutig oder neuartig – dann hilft das alles nicht.
Wissen hilft nicht bei unbekanntem, neuem.
Dann braucht es:
- Zeit für Denken statt Geschwindigkeit bei Umsetzung
- Räume für Ideen statt mehr Effizienz
- Fragen statt Antworten
Komplexität lässt sich nicht organisieren. Sie will verstanden, durchdrungen und gestaltet werden.
Was ich beim Schreiben (wieder) lerne
Das Schreiben meines Buchs erinnert mich täglich daran, wie wichtig es ist, klar zu unterscheiden:
- Wo brauche ich Struktur – und wo Mut zum Ungeplanten?
- Wann hilft Disziplin – und wann Stille?
- Was ist tatsächlich das Problem – und nicht nur die Oberfläche?
Drei Kernbotschaften für Führung und Organisation:
- Komplexität und Kompliziertheit sind nicht das Gleiche – und verlangen unterschiedliche Reaktionen.
- Gute Führung erkennt, in welchem Modus sie gerade operiert – und wechselt bewusst.
- Selbstführung ist die Grundlage – denn wer sich selbst nicht steuern kann, verliert in der Komplexität schnell die Orientierung.
In meinem Buch widme ich genau diesen Fragen ein eigenes Kapitel – unter anderem aus der Perspektive von Pilot, Manager, Mensch.
Denn am Ende gilt:
Wer schneller tippt, schreibt nicht besser.
Wer schneller handelt, führt nicht klüger.
Und wer nicht weiß, in welcher Welt er sich bewegt, bleibt blind – auch mit perfekter Ausrüstung.
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