Pilot Induced Oscillation - oder wie ich lernte, weniger zu lenken und mehr zu gestalten
In den sehr frühen Tagen meiner Fliegerlaufbahn begegnete mir ein Phänomen, das unter Pilot:innen gleichermaßen gefürchtet wie lehrreich ist: PIO – Pilot Induced Oscillation.
Damals, 1994, irgendwo unter der gleißenden Sonne Arizonas, absolvierte ich ein Auswahlverfahren, das über meine fliegerische Zukunft entscheiden sollte. Acht Wochen Flug-Theorie, Testflüge und mentale Belastungsproben – jede Sekunde zählte, jeder Fehler war ein Argument gegen mich.
Schon bei den ersten Landungen geschah es: Nach dem Aufsetzen begann sich der Flieger unter mir zu wiegen, nicht sanft, nicht harmlos, oh nein! Durch eigene, überhastete Steuerimpulse brachte ich das Flugzeug zum Schlingern, das sich mit jeder Korrektur weiter aufschaukelte. Ein oszillierendes Drama, durch meine eigenen Füße ausgelöst. Mehr als einmal griff mein Fluglehrer rettend ein, als sich das Flugzeug der Kontrolle entzog und die Situation kippte. Ein einziges Mal nicht schnell genug reagiert – und es wäre zumindest einmal zu verbogenen Blech gekommen.
Mit der Zeit – etwas Fokussierung und einem Schuss Demut – verstand ich, was hier geschah. Die Maschine reagierte nicht falsch, ich tat es. Zu früh, zu viel, zu unsicher. Ich lernte und disziplinierte mich , ruhiger zu bleiben. Vertrauen in das System zu haben und feinfühliger zu reagieren. Bewegungen nicht zu erzwingen, sondern geschehen zu lassen und dann eingeschwungen zu reagieren. Schließlich gelang die Landung – und mit ihr der nächste Schritt Richtung Pilotenschein.
Was ich damals nicht ahnte: Das Phänomen – PIO - würde mir wieder begegnen. Ewige Jahre später, fernab jeder Landebahn, saß ich in einem Meeting – und das Schlingern begann von Neuem. Nicht im Flugzeug, sondern im Team. Ein anderes Cockpit, gleiche Dynamik.
Als Führungskraft in einer neuen Rolle geriet ich in eine Schleife aus Mikromanagement und Kontrollzwang. Ein Projekt geriet ins Stocken, die Ergebnisse blieben hinter den Erwartungen. Unsicherheit kroch unter die Haut – und mit ihr der Drang, einzugreifen. Erst sanft, dann energischer, schließlich reflexhaft. Ich zog Meetings an mich, stellte Abläufe infrage, übernahm Kontrolle, drehte an Stellschrauben, wo keine zu finden waren.
Doch statt Stabilität kehrte Unruhe ein. Das Team verlor Orientierung, Eigenverantwortung wich Rückzug. Wie einst im Flieger oszillierte das System – angestoßen von mir. Jede neue Maßnahme verschlimmerte das Ungleichgewicht, statt es zu beheben. Was einst PIO hieß, nannte ich nun MIO: Management Induced Oscillation.
Die Parallele war frappierend. In beiden Fällen löste die übertriebene Reaktion das Problem aus, das sie eigentlich verhindern sollte. Nicht der Mangel an Kontrolle war das Problem, sondern ihr Übermaß. Nicht der Fehler des Systems, sondern das Misstrauen in seine Stabilität.
Was mich diese Erfahrungen lehrte, wird oft im Organisationsalltag nicht verstanden: Systeme verfügen über ihre eigene Dynamik, ihre eigene Fähigkeit zur Selbstregulation. Wer ihnen diese Möglichkeit durch permanente Eingriffe nimmt, wird – trotz bester Absicht – selbst zur Quelle der Instabilität. Vertrauen, Raum, Geduld und ein tiefes Verständnis für das System sind keine passiven Tugenden, sondern Ausdruck souveräner Führungsstärke und ein Must-Have.
Gerade in Zeiten erhöhter Komplexität ist es nicht das beherzte Eingreifen, das Wirkung entfaltet, sondern das kluge Ermöglichen von Wirkung. Manchmal ist das wirksamste Steuern eben genau nicht zu steuern.
Der Impuls zur Korrektur ist auf den ersten Blick verständlich – aber nicht immer hilfreich. Wer Führung als ständige Intervention missversteht, löst genau jene Dynamik aus, die er verhindern will: Misstrauen, Rückzug, innere Kündigung.
Je dynamischer ein System, desto weniger hilft Kontrolle und desto mehr braucht es strukturelle Gestaltung. Es geht nicht um das Beherrschen, sondern um das Gestalten jener Bedingungen, unter denen sich das System selbst intelligent justieren kann. Wer ständig am Ruder zieht, bringt das Schiff – oder das Flugzeug - aus dem Takt. Wer hingegen zuhört, beobachtet und gezielt lenkt, wird erleben: Der Flieger fliegt. Oft besser, als man denkt.
Oder, wie mein Fluglehrer – Danke Dirk Stephan - es einmal lakonisch formulierte, als ich wieder überkorrigierte:
„Der Flieger will landen. Du musst nur aufhören, ihn davon abzuhalten.“