Impulse für einen anderen Blick auf Organisationen - Teil 4
Entscheidungsprämissen - Entscheiden, was man entscheiden kann
Unternehmen sprechen häufig über Wandel. Über Transformation, neue Strukturen, bessere Prozesse. Doch nicht jede Veränderung gelingt. Und nicht jede Maßnahme entfaltet die Wirkung, die sie soll. Das liegt selten am guten Willen – und viel häufiger an einer strukturellen Unterscheidung, die in Organisationen oft unbeachtet bleibt: die Differenz zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren Entscheidungsprämissen.
Diese Unterscheidung, die auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns zurückgeht, ist zentral, wenn es darum geht, Organisationen wirklich zu verstehen – und Veränderung nachhaltig zu ermöglichen.
Entscheidbar oder nicht entscheidbar?
Zwei Ebenen, zwei Logiken
Organisationen treffen Entscheidungen. Doch nicht jede Entscheidung bewegt sich auf derselben Ebene.
Entscheidbare Entscheidungsprämissen bezeichnen all jene Elemente, die Organisationen durch bewusste Entscheidungen gestalten können. Dazu zählen beispielsweise:
- Arbeitsabläufe und Programme
- Zuständigkeiten und Rollen
- Organigramme, Hierarchien, Meetingformate
- Strategien und Zielvorgaben
Sie lassen sich planen, beschließen, umsetzen. Sie sind der sichtbare Teil der Organisation – und das, worauf Führungskräfte direkten Einfluss nehmen können.
Dem gegenüber stehen unentscheidbare Entscheidungsprämissen. Sie entziehen sich der direkten Gestaltung. Dazu gehören:
- Die gelebte Kultur einer Organisation
- Gemeinsame Werte, implizite Normen
- Informelle Machtverhältnisse
- Tief verankerte Entscheidungslogiken
Diese Ebene ist nicht weniger wirksam – im Gegenteil. Oft entscheidet sie darüber, ob Veränderung gelingt oder scheitert. Doch sie verändert sich nicht durch Anordnung, sondern über Zeit, Erfahrung und wiederkehrende Kommunikation.
Welche Implikationen hat diese Erkenntnis auf Veränderungen?
Veränderung, die allein an der Struktur ansetzt, bleibt oft wirkungslos, wenn sie die unentscheidbaren Prämissen nicht berücksichtigt. Ein neues Meetingformat etwa kann eingeführt werden – doch wenn die zugrundeliegende Kultur keine Offenheit zulässt, wird sich am Entscheidungsverhalten wenig ändern. Die Folge: scheinbare Umsetzung bei gleichzeitigem Stillstand.
Anders gesagt: Nur weil sich die Form verändert, folgt nicht automatisch ein Wandel im Inhalt.
Diese Dynamik lässt sich in zahlreichen Organisationen beobachten: Strukturen werden verändert, neue Tools eingeführt, Führungsleitlinien neu formuliert. Und doch bleibt das Entscheidungsverhalten stabil – weil sich die zugrundeliegende Logik nicht verändert hat.
Und was bedeutet das für Führung?
Für Führungskräfte heißt das: Es genügt nicht, auf das zu schauen, was sich leicht gestalten lässt. Es braucht ein Bewusstsein dafür, wo die Grenze zwischen machbarer Veränderung und tiefer systemischer Prägung verläuft.
Das bedeutet:
- Beobachtung statt Aktionismus: Zunächst verstehen, welche Prämissen in der Organisation wirksam sind – und wie sie entstanden sind.
- Gestaltung auf zwei Ebenen: Kurzfristige Entscheidungen auf der strukturellen Ebene mit langfristiger Arbeit an der kulturellen Ebene verbinden.
- Vorbild statt Verkündung: Veränderung von Kultur geschieht über Haltung, Verhalten und Kommunikation – nicht durch Appelle oder Werteplakate.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein Unternehmen führt eine neue Innovationsstrategie ein. Die Strukturen werden angepasst, Verantwortlichkeiten neu verteilt. Doch die Mitarbeitenden halten sich mit Ideen zurück. Man wartet ab. Woran liegt das?
Ein Blick auf die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen zeigt: In der Organisation besteht eine tiefe Verunsicherung im Umgang mit Fehlern. Irrtümer werden selten offen benannt, Kritik oft mit persönlichem Risiko verbunden. Innovation bleibt deshalb Theorie.
Was hier fehlt, ist kein weiteres Programm – sondern eine Auseinandersetzung mit der Entscheidungslogik der Organisation selbst. Und diese lässt sich nicht verordnen, sondern nur langsam und durch neue Erfahrungen verändern.
Am Ende schafft Differenzierung mehr Klarheit
Wer Organisationen verändern will, muss differenzieren lernen. Zwischen dem, was entschieden werden kann – und dem, was sich nur über Zeit und Praxis wandelt.
Nur wenn beide Ebenen zusammen gedacht werden – Struktur und Kultur, Programm und Haltung – kann Veränderung wirksam werden.
Denn erfolgreiche Organisationsentwicklung beginnt nicht bei den Maßnahmen. Sie beginnt bei der Frage: Was können wir heute wirklich entscheiden? Und was braucht Geduld, Aufmerksamkeit – und einen langen Atem?