Können wir als Führungskraft authentisch sein?
Authentizität wird oft als eines der höchsten Ideale in zwischenmenschlichen Beziehungen betrachtet. Vor allem im Führungskontext – als Erwartung an heutige Führungskräfte – spielt diese Forderung eine immer größere Bedeutung. Führungskräfte sollen alles in sich vereinen.
Doch wie authentisch können wir wirklich sein, insbesondere in komplexen sozialen Systemen wie Organisationen, Teams oder Gesellschaften? Der Begriff Authentizität wird häufig mit Selbsttreue, innerer Kohärenz und der Fähigkeit, „man selbst zu sein“, gleichgesetzt. Doch genau das wirft die Frage auf, ob Authentizität in sozialen Kontexten tatsächlich umsetzbar ist – oder ob sie zwangsläufig eingeschränkt wird. Wenn wir einmal eine Position abseits des Üblichen einnehmen und an uns selbst beobachten, wie unser Verhalten sich der aktuellen Umwelt – im Sinne des sozialen Systems, z.B. Familie, Sportverein, Stammtisch, Unternehmen, etc. – ändert und anpasst, muss doch die Forderung nach wirklicher Authentizität hinterfragt werden, oder?
Rollen und Erwartungen in sozialen Systemen
In sozialen Systemen sind Individuen stets von Rollen geprägt, die sie einnehmen. Eine Rolle definiert, was von einer Person erwartet wird, unabhängig von deren individuellen Überzeugungen oder Gefühlen. Diese Erwartungen sind oft so dominant, dass sie die Wahrnehmung der eigentlichen Person überlagern. Eine Führungskraft soll beispielsweise entscheidungsfreudig und selbstbewusst wirken, ein Mitarbeitender loyal und effizient sein. Solche Erwartungen entstehen aus der Funktion, die die Rolle im System erfüllt, und sind losgelöst von der Individualität der Person.
Das Spannungsfeld zwischen Rolle und Persönlichkeit macht es schwer, authentisch zu bleiben. Authentizität wird oft als die Übereinstimmung zwischen dem inneren Selbst und dem äußeren Verhalten definiert. Doch was passiert, wenn die Erwartungen der Rolle dieser Übereinstimmung im Weg stehen? Muss die Führungskraft ihre Unsicherheit zeigen, um authentisch zu sein, oder sollte sie ihre Rolle erfüllen und Zuversicht vermitteln? Hier zeigt sich die Herausforderung, Authentizität in einem System zu leben, das Rollen klare Regeln und Erwartungen vorgibt.
Der Mechanismus der Rollen und Personas
Eine Persona ist die nach außen gerichtete Facette einer Person, die bewusst oder unbewusst den Erwartungen des sozialen Systems entspricht. Während eine Rolle die strukturellen Anforderungen beschreibt, zeigt die Persona, wie eine Person diese Rolle ausfüllt. Der Mechanismus dahinter ist, dass soziale Systeme Stabilität benötigen, die durch Vorhersehbarkeit erreicht wird. Eine Führungskraft wirkt berechenbar, wenn sie konsistent handelt und sich an die Rollenerwartungen hält, selbst wenn sie innerlich andere Überzeugungen hat.
Dieser Mechanismus schafft einerseits Vertrauen und Stabilität, fordert jedoch von der Person, sich selbst zurückzunehmen. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch, „echt“ zu sein, und der Notwendigkeit, den Erwartungen gerecht zu werden. Diese Diskrepanz ist die zentrale Herausforderung für Authentizität in sozialen Systemen.
Die Forderung nach Authentizität ist eine paradoxe Herausforderung. In modernen Arbeitswelten und Beziehungen wird häufig Authentizität gefordert, doch diese Forderung ist oft paradox. Einerseits erwarten soziale Systeme, dass Individuen ihre Rollen vorhersagbar ausfüllen. Andererseits wird gleichzeitig verlangt, dass sie „authentisch“ sind, also unverfälscht und nahbar wirken. Diese beiden Anforderungen können sich widersprechen. Da im ersten Fall die Zuschreibung an der Rolle festgemacht wird und im zweiten Fall der Persönlichkeit. Die Beobachtung einer Person ist jedoch nicht die Beobachtung der Persönlichkeit, sondern immer auch die des Kontextes.
Erstes Beispiel:
Einer meiner ersten Flüge als Fluglehrer war die Einsatztauglichkeits-Überprüfung eines Flieger-Kollegen. Jemand, mit dem ich gemeinsam ein gutes Stück des Weges zum Piloten gegangen bin. Leider war die Leistung des Kameraden in diesem Checkflug nicht auf dem Niveau, welches die Vorgaben forderten. Ergo, meine Entscheidung als Fluglehrer war, ihn nicht bestehen und damit einsatztauglich zu lassen. Was war hier dominant? Meine Rolle als Fluglehrer, meine Rolle als Kamerad oder gar meine Rolle als Freund? War ich aus der Perspektive meiner Persönlichkeit authentisch?
Zweites Beispiel:
Ein Arzt wird von seinen Patienten als professionell und sachlich erwartet, doch gleichzeitig wünschen sich viele Patienten Einfühlungsvermögen und persönliche Nähe. Diese Erwartungen können in Konflikt geraten, wenn der Arzt beispielsweise emotional auf einen schweren Fall reagiert und dabei das Bild des kühlen, sachlichen Experten bricht. Ist er dann authentisch oder hat er die Erwartungen seiner Rolle verfehlt?
Das Spannungsfeld Rolle und Selbst
Die Schwierigkeit, authentisch zu sein, liegt in der Balance zwischen der eigenen Identität und den Anforderungen der sozialen Umwelt. Authentizität bedeutet nicht, uneingeschränkt jedem Impuls oder Gefühl zu folgen, sondern vielmehr, die eigene Persönlichkeit in den Rahmen der Rolle einzubringen. Es ist eine bewusste Entscheidung, wie viel von sich selbst man zeigt, ohne die Erwartungen des Systems zu enttäuschen.
Eine Führungskraft kann beispielsweise ihre Werte und Überzeugungen durch ihre Entscheidungen einfließen lassen, ohne jede Unsicherheit oder persönliche Meinung öffentlich zu machen. Authentizität zeigt sich dann in der Ehrlichkeit und Konsistenz, mit der sie ihre Rolle ausfüllt. Sie ist damit abgelöst von der Persönlichkeit und eine Zuschreibung des Systems an die Rolle und der Beobachtung.
Daraus ergeben sich fundamentale Grenzen der Authentizität, die durch folgende Faktoren definiert werden:
- Druck zur Anpassung: Soziale Systeme benötigen stabile Rollen, die reibungslos funktionieren. Wer sich zu weit von der Rollenerwartung entfernt, riskiert Ausgrenzung oder Konflikte.
- Angst vor Ablehnung: Menschen passen ihr Verhalten oft an, um akzeptiert zu werden, was dazu führen kann, dass sie Aspekte ihrer Persönlichkeit verbergen.
- Machtstrukturen: Hierarchien erschweren es, authentisch zu sein, da das Risiko höher ist, die Erwartungen derjenigen zu enttäuschen, die über Macht verfügen.
Diese Faktoren machen deutlich, dass Authentizität in sozialen Systemen nicht grenzenlos möglich ist. Sie wird immer wieder von äußeren Zwängen eingegrenzt.
Trotz dieser Herausforderungen bleibt Authentizität ein wertvolles Ideal aber auch ein nicht erreichbares. Statt dem Streben nach Erfüllung dieser Erwartungen zu erliegen, sollte sie als Reflexionsfläche dienen um Klarheit darüber zu bekommen, welche Erwartungen das soziale System an die eigene Persona bzw. Rolle stellt. Das erlaubt etwaige Abweichungen zu erkennen und damit bewusster umzugehen.
Authentizität ist in sozialen Systemen weniger ein Zustand als ein Prozess. Es geht darum, die Balance zwischen Anpassung und Selbsttreue immer wieder neu auszutarieren und bewusst Entscheidungen zu treffen, die sowohl der eigenen Identität als auch den Anforderungen des Systems gerecht werden.
Und bedeutet das nun im Bezug auf die Eingangsfrage: Können wir überhaupt authentisch sein?
Die Frage, ob Menschen in sozialen Systemen authentisch sein können, ist komplex. Rollen und Erwartungen fordern oft Anpassung, während gleichzeitig Authentizität verlangt wird. Authentisch zu sein bedeutet in diesem Kontext nicht, die eigene Persönlichkeit isoliert zu bewerten, sondern vielmehr der Abgleich zwischen Persönlichkeit und Erwartungen des sozialen Systems in dem ich mich bewege. Es ist ein Balanceakt, der Reflexion, Mut und die Fähigkeit erfordert, zwischen Anpassung und Selbsttreue zu vermitteln. Dabei wird klar: Menschen können die Forderung nach Authentizität nicht vollständig erfüllen, da sie immer an die Erwartungen des sozialen Systems gebunden sind. Was sie erfüllen, ist die Erwartung an die Persona – die nach außen gerichtete, rollengeprägte Seite ihres Selbst. Authentizität wird somit immer auch eine Frage des Kontextes.
Der Führungsalltag ist ein Leben mit Paradoxien!