Die Geschichte des defekten Triebwerks: Vertrauen und Misstrauen in Aktion

Mike Hoofdmann • 19. Januar 2025

Es war ein Routineflug – zumindest für die ersten Minuten. Auf dem Weg ins Einsatzgebiet waren wir guter Dinge. Es stand uns ein spannender Einsatz bevor, das Wetter war perfekt, und wir freuten uns darauf, auch an diesem Tag Gutes zu tun. Doch die Spannung kam anders als erwartet: 30 Minuten nach dem Start meldete sich unser linkes Triebwerk mit instabilen Verdichterdrehzahlen – ein klares Anzeichen für ein technisches Problem und ein potenzieller Triebwerksausfall. Die ersten Sekunden waren von einem drückenden Schweigen und einem kurzen Moment der Unsicherheit geprägt.

"Always be prepared for the unexpected" war eines unserer Mantras, und dieser Moment brachte uns in eine Lage, in der Vertrauen und Misstrauen gleichermaßen gefragt waren. Nach einem kurzen, wortlosen Austausch mit meinem Co-Piloten – einem fragenden Blick und einem stillen „Echt jetzt?“ – griffen unsere Routinen nahtlos ineinander. Mein Co-Pilot zog die Checkliste hervor, ein Werkzeug, das in solchen Situationen wie ein Rettungsanker wirkt. Schritt für Schritt arbeiteten wir die Prozedur ab. Die klare Anweisung lautete: Triebwerk abschalten. Als mein Co-Pilot, mit einem leicht ungläubigen Blick, fragte: „Du willst doch nicht wirklich das Triebwerk abstellen?“, war meine Antwort kurz und bestimmt: „Oh doch.“

Die Entscheidung fiel schnell, aber nicht leichtfertig. Unsere trainierten Abläufe liefen automatisch weiter. Das vermeintlich defekte Triebwerk wurde kontrolliert heruntergefahren und kam schließlich zum Stillstand. So weit, so gut. Doch die Arbeit war damit nicht beendet. Die Landung musste vorbereitet, die Crew gebrieft und die Situation laufend überwacht werden. Kommunikation unter Stress – nicht trivial, sondern komplex – war in dieser Phase überlebenswichtig.

Mit nur einem funktionierenden Triebwerk erhöhte sich die Komplexität unseres Fluges erheblich. Einen Hubschrauber zu fliegen ist von Natur aus anspruchsvoll, doch mit einem ausgefallenen Triebwerk wird es zur echten Bewährungsprobe.

Nach etwa 30 angespannten Minuten setzten wir zur Landung an – sicher, unversehrt und um eine wertvolle Erfahrung reicher. Solche Momente, so nervenaufreibend sie auch sein mögen, schweißen ein Team zusammen und stärken die Resilienz. Sie zeigen, dass es eine Balance aus Vertrauen und Misstrauen förderlich sein kann und die Stabilität und Handlungsfähigkeit auch in Krisen garantiert.


Vertrauen und Misstrauen sind zwei Seiten derselben Medaille


Diese kurze Geschichte zeigt, wie Vertrauen und Misstrauen in einer konkreten, akuten Krisensituation zusammenwirken, um Stabilität und Sicherheit zu schaffen. Doch diese Mechanismen enden nicht nach der Landung. Auch auf einer langfristigen Ebene, etwa in Organisationen, spielen Vertrauen und Misstrauen eine zentrale Rolle.


Die Grundlage für Handlungsfähigkeit


Vertrauen gibt uns Sicherheit, auch unter Druck Entscheidungen zu treffen. Es stabilisiert Erwartungen und schafft die Grundlage für effektives Handeln:

  • Vertrauen in Prozesse: Die Checkliste war unser Leitfaden. Sie nahm uns die Unsicherheit und erlaubte uns, schnell und gezielt zu handeln. Organisationen schaffen ähnliche Stabilität durch klare Strukturen, bewährte Methoden und transparente Kommunikation.
  • Vertrauen ins Team: Zwischen meinem Co-Piloten und mir bestand ein gegenseitiges Vertrauen. Jeder wusste, dass der andere seine Aufgaben kompetent und zuverlässig erfüllt. Langfristig fördert Vertrauen in Teams die Zusammenarbeit und steigert die Produktivität.
  • Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten: Dieses Vertrauen resultiert aus Training und Erfahrung. In Organisationen spiegelt sich dies wider, wenn Mitarbeitende auf ihre Kompetenzen vertrauen und ihre Entscheidungen mutig treffen können.


Misstrauen ist ein Schutzmechanismus


Misstrauen hat in der Geschichte eine ebenso wichtige Rolle gespielt. Es war kein Problem, sondern ein Mechanismus, der uns dazu brachte, Risiken bewusst zu analysieren und zu minimieren:

  • Misstrauen gegenüber der Technik: Die instabile Drehzahl des Triebwerks war ein klares Warnsignal. Wir nahmen es ernst und entschieden uns für die sichere, wenn auch anspruchsvollere Option: den Flug mit nur einem Triebwerk fortzusetzen.
  • Kritisches Hinterfragen: Die Rückfrage meines Co-Piloten – „Du willst doch nicht wirklich das Triebwerk abstellen?“ – war ein Ausdruck von gesundem Misstrauen. Es stellte sicher, dass die Entscheidung reflektiert und abgesichert war.


Und was heißt das für Organisationen?


In sozialen Systemen sind Vertrauen und Misstrauen grundsätzlich immer vorhanden oder zumindest potenziell emergent. Beide sind unverzichtbare Mechanismen, die es sozialen Systemen ermöglichen, mit Unsicherheiten und Komplexität umzugehen. Ob eines von beiden dominanter ist oder ob sie gleichermaßen wirken, hängt jedoch stark von den spezifischen Kontextbedingungen und strukturellen Rahmenbedingungen des Systems ab. Es gibt jedoch keine sozialen Systeme, die vollständig ohne Vertrauen oder Misstrauen auskommen könnten.


Die Mechanismen von Vertrauen und Misstrauen wirken nicht nur in akuten Krisensituationen wie in der Geschichte, sondern auch auf einer systemischen Ebene in Organisationen:


Vertrauen fördert Stabilität und Effizienz

  • In Organisationen schafft Vertrauen Klarheit in Abläufen, stärkt die Zusammenarbeit und ermöglicht eine schnelle Entscheidungsfindung.
  • Langfristig ist Vertrauen der Grundstein für eine gesunde Unternehmenskultur und eine belastbare Arbeitsatmosphäre.

Misstrauen deckt Schwächen und Widersprüche auf

  • Misstrauen ist nicht negativ, sondern ein Warnsignal. Es wirkt in ähnlicher Form stabilisierend, lenkt den Fokus jedoch in andere Bereiche des sozialen Systems. Es zeigt, wo Rahmenbedingungen oder Prozesse dysfunktional sind.
  • Organisationen können Misstrauen nutzen, um strukturelle Probleme zu identifizieren und Verbesserungen vorzunehmen.


Praktische Lehren für Organisationen

Die Geschichte zeigt, dass Vertrauen und Misstrauen Hand in Hand arbeiten, um Stabilität zu schaffen. Organisationen können daraus wichtige Lektionen für ihre langfristige Entwicklung ziehen:

  • Vertrauen aufbauen: Klare Prozesse, regelmäßige Schulungen und offene Kommunikation schaffen die Grundlage für Vertrauen.
  • Gesundes Misstrauen nutzen: Kritisches Hinterfragen und die Analyse von Risiken helfen, blinde Flecken zu vermeiden und Schwachstellen zu beheben.
  • Widersprüche aufdecken: Organisationen sollten Misstrauen als wertvolles Signal nutzen, um strukturelle Dysfunktionalitäten und Widersprüche gezielt anzugehen.
  • Die Balance aktiv gestalten: Mechanismen wie Feedback-Schleifen und transparente Entscheidungsprozesse können helfen, Vertrauen und Misstrauen in einem gesunden Gleichgewicht zu halten.


Und nun?


Wie bei unserem Flug mit dem defekten Triebwerk gilt auch in Organisationen: Vertrauen ist ein elementarer Faktor in High-Performance -Teams schließt jedoch Misstrauen nicht aus. Auch Misstrauen wirkt in sozialen Systemen – Cockpit oder Organisationen – stabilisierend und entfaltet unter bestimmten Bedingungen förderliche Wirkung. Was natürlich nicht als Aufruf verstanden werden soll, Misstrauen in Ihrer Organisation zu fördern. Jedoch sollten wir dem Mechanismus etwas weniger Ideologisch gegenüber stehen, als es in den vorherrschenden Diskussionen heute üblich ist.


Denke Sie einmal darüber nach. Welche Mechanismen nutzen Sie in Ihrem Team oder Ihrer Organisation, um Vertrauen und Misstrauen in Balance zu halten? Wo könnte gesundes Misstrauen Ihnen helfen, Stärken zu entfalten und Risiken zu minimieren?