Die Frage nach Stärken und Schwächen – ein Plädoyer für Kontext und Menschlichkeit
Die Frage nach Stärken und Schwächen – ein Plädoyer für Kontext und Menschlichkeit
„Was sind Ihre Stärken? Und Ihre Schwächen?“ Diese Fragen begegnen uns in nahezu jedem Bewerbungsgespräch. Anfangs habe ich sie mit der gebotenen Ernsthaftigkeit beantwortet, immer darauf bedacht, die „richtige“ Antwort zu geben. Doch je intensiver ich mich – beruflich wie privat – mit menschlichen Eigenschaften auseinandersetzte, desto mehr begann ich, die Sinnhaftigkeit dieser Fragestellung zu hinterfragen. Heute bin ich überzeugt: Die pauschale Einordnung von Eigenschaften in Stärken und Schwächen wird weder der Komplexität eines Menschen noch dem Kontext einer Aufgabe gerecht.
Stärken und Schwächen: Absolut oder kontextabhängig?
Auf den ersten Blick erscheint die Antwort einfach: Stärken sind die Dinge, die wir gut können, Schwächen jene, die uns schwerfallen. Doch ist es wirklich so einfach? Diese Definition setzt voraus, dass Eigenschaften unabhängig von ihrer Umwelt bewertet werden können. Aber kann eine Eigenschaft tatsächlich eine Stärke oder Schwäche sein, ohne den Kontext, in dem sie sich zeigt, zu berücksichtigen?
Menschen verhalten sich kontextabhängig. Wir agieren im Fußballstadion anders als im Boardmeeting, im Freundeskreis anders als bei der Arbeit. Diese Anpassung ist weder falsch noch unnatürlich – sie ist angemessen. Verhalten wird von der jeweiligen Situation geprägt, und diese beeinflusst auch, ob eine Eigenschaft als Stärke oder Schwäche wahrgenommen wird.
Beispiel: Entscheidungsfreudigkeit ist in einer dynamischen, schnellen Umgebung oft eine Stärke. Doch in einem kreativen Brainstorming, das Geduld und Offenheit erfordert, kann dieselbe Eigenschaft hinderlich wirken. Umgekehrt mag Kreativität in einem stark prozessgesteuerten Umfeld weniger nützlich sein. Der Kontext entscheidet.
Die Unsinnigkeit pauschaler Fragen
Wenn Verhalten und Eigenschaften so stark von der Umwelt abhängen, wird deutlich, warum die Frage „Was sind Ihre Stärken?“ pauschal nicht sinnvoll beantwortet werden kann. Eine ehrliche Antwort müsste lauten: „Das hängt davon ab.“ Denn die Bewertung durch den Fragenden ist ebenfalls subjektiv. Sie basiert auf dessen Werte und Erfahrungen, die der Antwortende nicht kennen kann. Damit wird die Frage zu einer Übung im Spekulieren, die weder der befragten Person noch der Aufgabe gerecht wird.
Eine neue Perspektive: Tieferes Interesse am Menschen
Anstelle pauschaler Kategorisierungen sollten wir uns auf den Menschen konzentrieren. Warum hat eine Person bestimmte Entscheidungen getroffen? Was hat sie motiviert? Wie hat sie Herausforderungen gemeistert? Solche Fragen geben Einblick in Denkweise und Werte, sie fördern ein echtes Verständnis des Gegenübers. Eigenschaften lassen sich nur dann sinnvoll einordnen, wenn sie im Kontext der Aufgabe und des Teams betrachtet werden.
Das erfordert eine systemische Perspektive: Organisationen und ihre Aufgaben sind Umwelten, die Verhalten und dessen Bewertung prägen. Was in einem Team als Stärke gilt, kann in einem anderen als Schwäche angesehen werden. Die Frage, ob jemand "passt", hängt also nicht von der Eigenschaft selbst ab, sondern davon, ob die Umwelt diese Eigenschaft wertschätzt und nutzen kann.
Die Takeaways
- Kontext ist entscheidend: Eigenschaften sind weder absolut gut noch schlecht. Sie gewinnen Bedeutung durch die Umwelt, in der sie zum Einsatz kommen.
- Tiefer gehende Gespräche: Statt Stärken und Schwächen zu bewerten, sollten wir den Menschen verstehen wollen: seine Beweggründe, seine Denkweise, seine Anpassungsfähigkeit.
- Systemisches Denken: Organisationen prägen die Wahrnehmung und Bewertung von Verhalten. Die Passung einer Person ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Eigenschaft und Umwelt, nicht aus abstrakten Kategorien.
Mein persönlicher Ansatz
Auf die Frage nach meinen Stärken und Schwächen antworte ich seit Jahren:
„Das kann ich Ihnen nicht pauschal sagen. Ich kann Ihnen beschreiben, wie ich bin und wie ich mich wahrnehme. Ob das eine Stärke ist, können nur Sie im Kontext der Aufgabe bewerten.“
Für manche Personaler:innen mag das provokant wirken. Doch ich bin überzeugt: Wir alle sind, was wir sind – einzigartig, komplex und wandelbar. Es ist an der Zeit, diese Vielfalt zu erkennen und die oberflächlichen Schubladen von „Stärken“ und „Schwächen“ hinter uns zu lassen. Denn nur so können wir den Menschen wirklich gerecht werden – und den Aufgaben, die vor ihnen liegen.