Entscheidungen, weil es sein muss - Kontingenz und das Prinzip des Problemgenerators

Mike Hoofdmann • 19. März 2025

Entscheidungen sind überall und allgegenwärtig. In Organisation bilden Entscheidungen Kommunikationsmuster aus, die die Organisation als System stark prägen. Entscheidungen sind jedoch selten endgültige Lösungen, sondern vielmehr der Beginn neuer Herausforderungen. Jede Entscheidung reduziert zunächst die Komplexität einer Situation, indem sie eine bestimmte Handlungsalternative wählt und damit andere ausschließt. Doch genau diese gewählte Handlungsoption generiert oft neue, unvorhergesehene Probleme. Dieses Phänomen beschreibt die Systemtheorie als "Entscheidungen als Problemgeneratoren".

Ein weiteres zentrales Konzept ist die Kontingenz von Entscheidungen. Das heißt, dass Entscheidungen nie alternativlos sind – es hätte auch anders entschieden werden können. Doch sobald eine Wahl getroffen ist, schließen sich andere Optionen, und neue Abhängigkeiten entstehen.

Die folgende sehr persönliche Geschichte aus meiner Vergangenheit als Pilot veranschaulicht beide Prinzipien auf, zugegeben, sehr individuelle Art und Weise: Eine spontane Entscheidung im Cockpit – scheinbar harmlos – führt zu einer gefährlichen Verkettung von Ereignissen. Schnelle wurde mir seinerzeit klar, dass es meine letzte Entscheidung gewesen sein könnte.


Wie eine einzige Entscheidung eine Kette neuer Probleme generiert, welche Konsequenzen sie nach sich zieht und warum im Nachhinein oft klar wird, dass auch andere Optionen möglich gewesen wären – all das zeigt diese Geschichte eindrucksvoll.


Ein Looping, ein Blackout und eine prägende Erkenntnis

Der Sommer 1995 war einer der heißesten, die ich bis dahin erlebt hatte – selbst in England. Ich befand mich in Barkston Heath, einem kleinen Flugplatz etwa 30 Meilen östlich von Nottingham, mitten in meiner Pilotenausbildung. Gleichwohl ich Hubschrauber fliegen wollte, war dieser Teil meiner Pilotenausbildung auf einem Flächenflugzeug. An diesem Tag stand ein Solo-Übungsflug auf dem Plan, der mich auf meinen bevorstehenden Checkflug vorbereiten sollte. Last Chance Check, sozusagen.

Mein Flugzeug: die Slingsby Firefly, ein kunstflugtaugliches Propellerflugzeug, war als robustes und leistungsfähiges Flugzeug bekannt – als kunstflugtaugliches Flugzeug konnte sie Beschleunigungsbelastungen von +6 g und -3 g ertragen.

Falls das nach einer Zahl ohne Bedeutung klingt, hier eine kleine Erklärung: +6 g bedeutet, dass man plötzlich das Sechsfache seines Körpergewichts wiegt. Klingt beeindruckend – ist es auch, vor allem wenn man die Effekte dieser Beschleunigungen an eigene Körper erfahren darf. Denn wenn das Blut unter dieser Belastung aus dem Gehirn in die Füße gepresst wird, passiert etwas sehr Unangenehmes: Kein Blut im Gehirn = kein Denken, kein Sehen = G-Loc. Kein Denken, kein Sehen, kein Bewusstsein = Blackout. Was ein Blackout war, wusste ich natürlich. Theoretisch.


Routine, Übermut und ein spontaner Geistesblitz

Es lief soweit alles nach Plan. Ich flog in den zugewiesenen Ausbildungssektor westlich von Barkston Heath, um mein Solo-Kunstflugprogramm zu üben. Jeder Flugschüler musste ein eigenes Programm entwickeln, das über Wochen trainiert und schließlich bewertet wurde. Mein Checkflug stand an, also sollte heute alles sitzen.


Ich begann mit den klassischen Manövern:
 
Wingovers – elegante, weiche Richtungswechsel.
 
Pedal-Turns – ein bisschen was fürs Gleichgewichtsorgan.
 
Loopings – weil geradeaus fliegen einfach langweilig ist.
 
Steep-Turns – um zu testen, wie lange das Frühstück im Magen bleibt.


Nach etwa der Hälfte des Fluges war ich mit meinem Programm zufrieden. Alles lief wie geschmiert. Ich nahm mir eine kurze Pause und genoss den Moment.


Und genau da kam mir eine Idee.


„Ich habe noch nie einen Looping aus dem Rückenflug geflogen. Warum eigentlich nicht?“

Ein besonnener Mensch hätte diesen Gedanken vermutlich verworfen und sein Schicksal nicht herausgefordert. Ich nicht.


Das Experiment ohne Vorbereitung

Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte ich das Flugzeug in den Rückenflug. Plötzlich hing ich kopfüber in den Gurten, während das Blut – der Schwerkraft folgend – in meinen Kopf rauschte. Falls du je wissen wolltest, wie sich das anfühlt: Es ist, als würde dein Gehirn gegen deine Stirninnenseite gedrückt werden. Nicht gerade angenehm, aber gut auszuhalten.


Zeit für den Looping.


Was ich in diesem Moment völlig vergaß: Es gibt einige grundlegende Regeln für so ein Manöver. Und ich brach sie alle.

Vor einem Looping aus dem Rückenflug muss die Motorleistung reduziert werden, damit die Geschwindigkeit nicht unkontrolliert ansteigt. Ich ließ das Gas voll aufgedreht. Je höher die Geschwindigkeit im Manöver, desto höher die g-Kräfte.  Durch den Sinkflug stieg die Geschwindigkeit zusätzlich rasant an, und ich wurde viel schneller als geplant.


Bei hohen g-Kräften braucht es Anti-g-Maßnahmen, damit das Blut im Gehirn bleibt, und man nicht bewusstlos wird – Blackout.
- Muskelanspannung in den Beinen um das Blut oben zu halten
- Spezielle Atemtechnik mit kurzen, schnellen Atemzyklen


Im Eifer des inneren Gefechts tat ich leider nichts davon.

Dann zog ich am Steuerknüppel – und die g-Kräfte schlugen unbarmherzig zu.


Blackout – und das System entscheidet selbst

Die Ereignisse überschlugen sich innerhalb von Sekunden.


  • Mein Körper wurde mit +6 g belastet.
  • Das Blut wurde aus meinem Gehirn in meine Beine gedrückt.
  • Mein Sehvermögen wurde grau (Gray-out).
  • Dann verlor ich mein Gehör.
  • Dann wurde alles schwarz.


Mein letzter Gedanke war: "Das war’s."


Was dann passierte, kann ich nicht wirklich erklären – denn ich war bewusstlos. Aber als ich wieder zu mir kam, hörte ich plötzlich Geräusche des Motors. Mein Gehör kehrte zurück, und vor meinen Augen erschien… blauer Himmel.


Moment. Blauer Himmel?


Dann begriff ich: Die Maschine zeigte senkrecht nach oben.


Irgendwie hatte ich im Blackout den Steuerknüppel festgehalten und den Looping vollendet. Glücklicherweise war ich hoch genug. Das Flugzeug war in einem perfekten Steigflug – und just in diesem Moment kam ich wieder zu mir. Das Glück ist einstweilen mit den Dummen!

Und dann traf ich die nächste Entscheidung und tat das einzig Richtige: Nichts.


Ich ließ das Flugzeug tun, was es für richtig hielt:
- Die Geschwindigkeit nahm ab.
- Die Nase senkte sich.
- Die Maschine richtete sich
von selbst wieder in den Geradeaus-Flug aus.


Mit zitternden Knien saß ich im Cockpit, und mir war hundeübel. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Antwort: nix.


Aber; Ich war am Leben.


Eine Lektion über Kontingenz und Problemgenerierung

Als ich zurückflog, wurde mir bewusst: Ich hatte wirklich alles falsch gemacht.


  • Ich war überheblich und dachte, ich könnte improvisieren
  • Ich hatte das Risiko nicht richtig eingeschätzt
  • Ich hatte die Konsequenzen nicht abgeschätzt
  • Ich hatte gegen alles verstoßen, was ich in meiner Ausbildung gelernt hatte


Kurz gesagt: Ich war ein Idiot mit Glücksbonus.


Doch aus systemtheoretischer Sicht war meine Erfahrung hochinteressant. Damals hatte ich noch keine Ahnung von diesen Zusammenhängen.


Entscheidungen als Problemgeneratoren

Manchmal entstehen die spannendsten Erkenntnisse genau dann, wenn man sie am wenigsten erwartet – zum Beispiel kopfüber in einem Flugzeug, kurz bevor einem die g-Kräfte das Bewusstsein rauben, und kurz nachdem eine dumme Entscheidung getroffen hat. Meine Geschichte ist mehr als nur ein leichtsinniges Flugmanöver. Sie zeigt, warum Entscheidungen nicht nur Probleme lösen, sondern gleichzeitig neue erschaffen.


Kontingenz in der Ausgangsentscheidung: Probieren oder lassen?

Alles begann mit einer vermeintlich simplen Entscheidung: Soll ich diesen Looping aus dem Rückenflug ausprobieren oder nicht?
Rein objektiv betrachtet gab es keinen Zwang. Niemand hatte mir gesagt: „Fliege diesen Looping du Wurst“ Aber genau das macht diese Entscheidung
kontingent – sie hätte auch anders ausfallen können. Und das hätte sie auch müssen, so im Nachhinein.


Doch stattdessen entschied ich mich für den „Lass es uns einfach mal versuchen“-Ansatz.

Entscheidungen reduzieren Möglichkeiten.


Sobald eine Entscheidung getroffen ist, erscheinen andere Wege, die vorher offenstanden, plötzlich ausgeschlossen. Entscheidungen reduzieren damit die Komplexität.


Übertrag auf Organisationen:
Entscheidungen in Unternehmen sind diesem Mechanismus ebenfalls unterworfen:


 - Investieren wir in eine neue Technologie oder optimieren wir unser bestehendes Geschäft?

 - Betreten wir einen neuen Markt oder konzentrieren wir uns auf bestehende Kunden?

 - Agieren wir offensiv oder defensiv?

 - Agil oder eben nicht?


Jede Entscheidung bedeutet: Ein Weg wird gewählt, andere werden (scheinbar) ausgeschlossen. Doch was folgt danach?


Kontingenz und Unsicherheit: Der Moment, in dem es zu spät war

Kaum hatte ich den Looping eingeleitet, merkte ich: Das fühlt sich nicht gut an.
Hätte ich hier abbrechen können? Theoretisch ja. Praktisch? Nun ja…

Jede Entscheidung erschafft neue Probleme, die gelöst werden müssen. Glücklich ist der, der genug Flughöhe hat, um diese neuen Probleme zu lösen


Entscheidungen erzeugen Folgeentscheidungen.
Es gibt keinen „Punkt des perfekten Wissens“, an dem man genau weiß, was passieren wird. Entscheidungen müssen oft unter Unsicherheit getroffen werden – das gilt für Piloten genauso wie für Unternehmenslenker.


Übertrag auf Organisationen:
Entscheidungen in Organisationen lösen immer wieder neue Entscheidungsnotwendigkeiten aus:


  • Ein Unternehmen investiert in eine neue Technologie – doch plötzlich treten ungeahnte Probleme auf.
  • Eine Expansion wird beschlossen – aber dann ändern sich Marktbedingungen.
  • Eine neue Strategie wird entwickelt – aber sie erfordert weitere Anpassungen an bestehende Prozesse.


Die Systemtheorie nennt das „doppelte Kontingenz“: Nicht nur die Entscheidung selbst ist ungewiss, sondern auch ihre Folgen.


Nicht alle Entscheidungen haben einen vorhersehbaren Ausgang.
Manchmal treten Faktoren auf, die nicht planbar sind – oder das System reguliert sich selbst, aber nicht immer zu unseren Gunsten.


Übertrag auf Organisationen:
Unternehmen erleben oft, dass Entscheidungen nicht die erwarteten Folgen haben:


  • Eine neue Marktstrategie kann durch plötzliche externe Ereignisse (z. B. Wirtschaftskrisen) hinfällig werden.
  • Eine Reorganisation kann zu unerwarteten Widerständen führen.
  • Ein „sicherer“ Geschäftszweig kann sich durch unvorhersehbare technische Entwicklungen als Sackgasse entpuppen.


Nicht alles ist steuerbar. Entscheidungen setzen Prozesse in Gang, deren Konsequenzen sich erst später zeigen. Der Unterschied von kompliziert und komplex.


Entscheidungen sind nie das Ende – sondern immer der Anfang neuer Probleme

Mein spontaner Looping löste eine ganze Kette an Problemen aus, die ich vorher nicht bedacht hatte:


  • Ich wollte nur meine Routine durchbrechen – und brachte mich fast um.
  • Ich dachte, ich hätte die Kontrolle – bis mein Körper entschied, dass er aussteigt.
  • Ich verließ mich darauf, dass alles gut geht – und wurde vom Zufall gerettet.


 

Abschließendes:


1. Jede Entscheidung ist kontingent.
Sie hätte auch anders ausfallen können – aber einmal getroffen, gibt es kein Zurück mehr.


2. Jede Entscheidung löst ein Problem – und erzeugt neue.
Mein ursprüngliches „Problem“ war Langeweile. Das „löste“ ich mit einem waghalsigen Manöver – und schuf mir damit ein sehr viel größeres Problem.


3. Die Folgen von Entscheidungen sind selbst kontingent.
Man kann nicht alles vorhersehen. Systeme reagieren oft überraschend – im Guten wie im Schlechten. Sie sind halt komplex.


4. Lernen geschieht erst nach der Entscheidung.
Erst nach dem Manöver wusste ich, dass ich alles falsch gemacht hatte – aber nicht jeder Fehler ist überlebbar. Glück gehabt.



Schlussgedanke: Keine Entscheidung ist auch eine. Nicht entscheiden funktioniert nur, wenn es nichts zu entscheiden gibt.


PS: Und falls Sie je in Versuchung kommen, einen Looping aus dem Rückenflug zu fliegen: Erst nachdenken und dann entscheiden.